13. Sonntag nach Trinitatis

6. September 2020 – 13. Sonntag nach Trinitatis

Gottesdienste um 8 und 10 Uhr in der Erlöserkirche mit Pfarrerin Anette Simojoki – Bitte beachten Sie die besonderen Schutzmaßnahmen.

Liedtafel:
059 1.2.4  Die Gott lieben
075 Wo Menschen sich vergessen
032 Du bist mein Zufluchtsort

Murren – Predigtabschnitt zum Gottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis

Murren. Waren sie in der vergangenen Woche einmal mürrisch? Oder gehört das gar nicht zu Ihrem Naturell? Oder verspüren Sie dieses Murren sogar öfter?

Murren, motzen, meckern, mosern, nörgeln, lamentieren, granteln, schimpfen – es gibt viele Worte. In Comics werden dazu oft dunkle Wolken oder Blitze gezeichnet und die Worte "Grrrr" oder "Grummelgrummel" dazu.

Murren zeigt, dass ein Bedürfnis oder eine Erwartung nicht erfüllt wird. Oder dass ich etwas nicht verstanden habe und mir jetzt nicht dumm vorkommen möchte. Murren ist noch keine Problemlösung. Aber wer gegenüber dem Anderen offen murrt, macht zumindest einen Dialog möglich. Das Murren war der Auslöser. Dafür, dass die Diakonie in den Anfängen der Kirche entstanden ist. Wären da nicht einige Grummelig und mürrisch geworden, wer weiß. Hören wir aus der Apostelgeschichte im 6. Kapitel:

„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.“ (Apg 6, 1-7).

Von einem Konflikt wird erzählt. Nicht der einzige Konflikt in der Bibel – aber an dieser Stelle kommt er ganz unerwartet. Denn es geht um die Jerusalemer Urgemeinde! Das waren Menschen, die miteinander in Gütergemeinschaft lebten und von denen es in der Apostelgeschichte heißt: „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (Apg 4, 32). Und: „Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern und hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen“ (Apg 2, 46). Menschen, die ein Herz und eine Seele sind, geraten doch nicht miteinander in Konflikt! – oder doch? Tatsächlich – das kommt in den besten Familien vor – und auch in den besten Gemeinden. Und so auch in der sonst so ideal dargestellten Urgemeinde. Wie gut, dass auch diese Geschichte in der Bibel steht und nicht nur Berichte über die Einmütigkeit der ersten Christen.

In der Gemeinde ist ein Konflikt entstanden: „Es erhob sich ein Murren.“ Es rumort. Es gibt Ärger und Unmut. Und zwar an einem besonders sensiblen Punkt. Zur Gemeinde gehörten Menschen aus zwei verschiedenen Kulturkreisen: hebräisch sprechende und griechisch sprechenden Juden, die alle Christen geworden waren. Während die hebräischen Leute aus dem Umfeld von Jerusalem stammten und meist schon ihr ganzes Leben dort verbracht hatten, kamen die griechischen Leute aus Griechenland und Kleinasien. Sie waren also in Jerusalem Ausländer. Sie lebten dort, um in der Nähe des Tempels zu sein. Viele von ihnen waren inzwischen Christen geworden und hatten sich der christlichen Gemeinde angeschlossen. Da nicht immer die ganze Sippe aus Griechenland mitgezogen war, gab es Witwen, die nach dem Tode ihres Mannes unversorgt blieben. Damals war die Familie für die soziale Absicherung zuständig. Wenn eine griechische Witwe allein war, hatte sie mehr Zuwendungen nötig als eine hebräische Witwe, die ihre Großfamilie vor Ort hatte.

Der Konflikt entsteht also, weil unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Bedürfnissen miteinander leben. Wie leicht geschieht es, dass dabei jemand zu kurz kommt! Wie gehen die Menschen in der Urgemeinde mit dem Konflikt um?

Zunächst einmal wie das Unrecht ausgesprochen: „Es erhob sich ein Murren“ heißt es zu Anfang. Die griechischen Witwen kamen zu kurz bei der täglichen Versorgung. Vielleicht haben sie selbst ihre Unzufriedenheit geäußert, vielleicht sind andere darauf aufmerksam geworden und haben sich verantwortlich gefühlt. Auf jeden Fall ist dieses „Murren“ der erste Schritt zu einer Lösung des Konflikts. Murren also etwas christliches? Also Unmut äußern und auf Unrecht aufmerksam machen? Keiner sagt den verwitweten Frauen, sie sollten sich still verhalten und bescheiden das Unrecht ertragen. Kein Wort davon. Wo Unrecht geschieht, muss es ausgesprochen werden – auch stellvertretend für die, die selbst keine Stimme haben. Dafür tragen wir alle Verantwortung. Nicht wegschauen, sondern wenigstens murren: Unmut äußern, Ungerechtigkeit aussprechen. Damit es die Verantwortlichen hören. Wenn man solche Worte in diesen Tagen sagt, dann muss man sie jedoch auch noch einmal genau prüfen. Denn gerade in der Gegenwart wird viel Unmut geäußert. Es wird gemurrt. Sich aufgelehnt. Viel Solidarität ist zu beobachten, aber auch viel Egoismus. Teilweise richtet sich der Blick – wie in der Jerusalemer Urgemeinde – auf die Gefährdeten und das, was Gefährdet ist, teilweise ist genau das Gegenteil der Fall.

„Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen.“ Das Murren über das geschehene Unrecht wurde gehört: die Verantwortlichen der Gemeinde sind aufmerksam geworden. Sie nehmen ernst, was ihnen zu Ohren kommt. Sie gehen den Konflikt an. „Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen.“ Sie hören auf das Murren derer, die ganz am Ende der damaligen sozialen Skala standen: mittellose Ausländerinnen, Frauen an der Armutsgrenze, die allein für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder sorgen mussten. Ihr Ärger wird ernst genommen. Gut so. Wer nämlich das Gefühl hat, nicht wahrgenommen und nicht ernst genommen zu werden, zieht sich zurück. Konfliktbearbeitung ist dann nur schwer möglich. Die ersten Christen kehren den Konflikt nicht unter den Teppich, sondern nehmen ihn ernst.

Auch heute geht es darum, darauf zu hören, was Menschen bewegt. Sie ernst zu nehmen mit ihren Nöten und Sorgen. Und auf die zu hören, die am Rande der Gesellschaft oder am Rande der Gemeinde stehen. Das ist tatsächlich christlich, jesuanisches Handeln.

Die Verantwortlichen haben erkannt, dass es in der Gemeinde Menschen gibt, die zu kurz kommen. Das hatten sie gar nicht bemerkt. Denn sie sind ja vollauf beschäftigt mit dem „Dienst des Wortes“, also mit Gottesdienst und Lehre. Da braucht es also strukturelle Veränderung. Und so tun sie etwas sehr Kluges: sie teilen ihre Verantwortung. „Darum seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“ Die Verantwortung wird geteilt. Sieben Männer sollen gewählt werden zur Unterstützung der Zwölf. Und es heißt weiter: „Die Rede gefiel der ganzen Menge gut.“ Ein Konflikt ist erst dann gelöst, wenn alle zufrieden sind. Nicht etwa dann, wenn sich der Stärkere durchgesetzt hat. Gemeinsam wählen sie sieben Männer, die alle zum griechisch sprechenden Gemeindeteil gehören. In Zukunft tragen also nicht nur die hebräischen Leute Leitungsverantwortung, sondern auch die griechischen. So soll Ärger künftig vermieden Dienst an den Schwächsten und Dienst am Wort gehören zusammen. Diakonie und Kirche.

Erst, als der Konflikt bearbeitet ist, heißt es in der Apostelgeschichte wieder: „Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem.“ Die Gemeinde kann wieder wachsen.

Die ersten Christen sind aus dem Murren heraus einen Weg gegangen. Unrecht wurde ausgesprochen. Die Verantwortlichen haben zugehört, Veränderung gewagt und Verantwortung geteilt. Von ihrer Erfahrung, von diesem Umgang können wir etwas lernen. Vor allem, nicht stehen und stecken zu blieben beim Murren, motzen, meckern, mosern, nörgeln, lamentieren, granteln, schimpfen. Und hoffentlich werden wir spüren: Mit Konflikten umgehen lernen ist ein von Gott begleiteter Weg. Im Privaten, in unserer Kirche und Diakonie, im gemeinschaftlichen. Er selbst gebe uns Wachsamkeit, Weisheit und Mut dazu. Amen.

Pfarrerin Anette Simojoki
 

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