Barfuß gehen

Barfuß gehen – Astrid Popp

10. Juni 2020 – Zum Zuhören

Es ist Juni, es geht auf den Sommeranfang zu und wir warten auf warme Tage.

Mir ist ein Text des Argentiniers Jorge Luis Borges eingefallen, in dem er davon spricht, was er in seinem Leben alles anders machen würde, wenn er sein Leben noch einmal leben könnte: Er würde weniger perfekt sein, mehr riskieren, mehr entspannen, ein bisschen verrückter sein, als er gewesen ist, er würde versuchen mehr gute Augenblicke zu erleben und, und, und …

Borges endet damit, dass er von Frühlingsbeginn bis in den Spätherbst barfuß gehen würde.

Ich selbst gehe sehr gerne barfuß, zu Hause, in meinem Garten und immer dann, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, spüren, wie sich das Holz des Fußbodens, die Kacheln im Bad, der Sand am Strand, die Kieselsteine auf dem Weg und das Gras auf der Wiese anfühlen. Kinder tun es gerne, schnell ziehen sie ihre Schuhe und Socken aus, wenn sie eine Möglichkeit haben. Versuchen Sie doch auch, sich – egal wo Sie sind – auf Ihre barfüßigen Füße zu konzentrieren und zu spüren.

Wenn unsere Füße nicht eingeschnürt sind in Stoff, Leder oder Plastik, wenn sie ohne eine störende Schicht auf der Erde, dem Untergrund stehen, dann sind wir der Natur näher, sind wir Gott näher.

Im Buch Exodus wird Mose aufgefordert: „Komm nicht näher heran, leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst ist heiliger Boden.“

In vielen Religionen ziehen die Menschen ihre Schuhe aus, wenn sie einen Tempel, eine Moschee, ein Gotteshaus betreten. Wenn das von uns unerwartet verlangt wird, reagieren wir unsicher, überlegen ob unsere Socken, unsere Füße in Ordnung sind.

Nackte Füße verraten etwas über unseren Stand, sind wir zu viel gesessen, haben viele Lasten getragen, waren in zu enge Vorgaben gepresst. Nicht umsonst gibt es die Redensart „Wo drückt dich der Schuh“. Auch einen anderen ver-stehen hat etwas mit unseren Füßen zu tun; es ist oft nicht leicht die Welt aus den Schuhen eines anderen heraus zu betrachten.

Ärzte raten dazu mehr barfuß zu laufen, die Stimulation unserer Fußsohlen wirkt sich positiv auf unsere inneren Organe aus. Der Blutdruck wird reguliert, die Abwehrkräfte werden stimuliert. Das wusste schon Pfarrer Sebastian Kneipp.

Wer seine Schuhe auszieht macht sich verletzlich. Nackte Sohlen machen uns verletzlich – wer aber überall auf dem Boden Scherben und stechende Insekten wittert ist schon verletzt – von der Angst.

Es gibt Menschen, die fühlen sich barfuß näher bei Gott. Der Orden der Barfüßer ist sehr früh gegründet worden.

Barfußgehen als Zeichen der Demut, der Andacht, aber im Mittelalter auch als Zeichen der Reue und der Buße. Franz von Assisi ist barfuß gelaufen, als Zeichen der Armut und Entsagung. Jesus hat seine Jünger ausgesandt, nachzulesen bei Matthäus und Lukas im10. Kapitel und sie aufgefordert alles zurückzulassen, nicht einmal Schuhe bei der Mission mitzunehmen. So sind sie abhängig von Gottes Fürsorge und von der Freundlichkeit und Dankbarkeit der Menschen, die sie treffen.

Und Sie selbst?
Gehen Sie doch mal in die Erlöserkirche oder eine andere Kirche, ziehen Sie ihre Schuhe aus und fühlen Sie die Kühle der Solnhofener Kalksteinplatten, die raue Struktur des Sisalläufers, das Holz unter den Kirchenbänken. Erspüren und erleben Sie den Boden unserer Kirche. Fühlen Sie sich verbunden.

Astrid Popp


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